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Toja & Omimi Lilo

„Ich setze mich zu dir und deine Hand findet ein letztes Mal meine. Während dein Herz langsam aufhört zu schlagen, klopft meines lauter als je zuvor. Als will es sagen: Ich schlage für dich weiter, keine Sorge.“


Die Trauer ist ein seltsames Gefühl. Zweieinhalb Jahre nach deinem Tod verschwindet sie oft wochenlang, als wäre sie nie da gewesen. Und dann bringt mich ein Paar Socken zum Weinen. Die Socken sind gepunktet und erscheinen in einem Dokumentarfilm. Eine erwachsene Tochter zieht ihre pflegebedürftige Mutter an. Junge Hände streifen behutsam über geschwollene Füße und faltige Knöchel. Plötzlich habe ich Sehnsucht nach deinen Socken, Omimi. Sie waren hellblau und an den Fersen schon ganz ausgelatscht, aber zum Flicken fehlte dir die Kraft und mir das Geschick.

Frühling, 2021. Gerade habe ich deine Füße gewaschen und eingecremt. Ich knie auf dem Fliesenboden in deinem Bad und schaue zu dir hoch. Du windest lachend deinen Fuß hin und her, versuchst, mir das Anziehen leichter zu machen. „Vertauschte Rollen“, stellst du fest, und erinnerst dich wohl an eine umgekehrte Situation vor etwa 25 Jahren. Da hast du mir die Socken angezogen, weil ich es noch nicht konnte. Jetzt übernehme ich Schritt für Schritt das, was du nicht mehr kannst. Das Leben läuft vorwärts und rückwärts zugleich, in runden Kreisen. Meines begann mit dir und deines wird mit mir enden. Aber bis zum Ende bleibt uns noch etwas Zeit zum Lachen. „Einsteigen bitte“ sage ich jetzt, und halte dir deine Klettsandalen hin. Dann hänge ich mir das Sauerstoffgerät um, schiebe deinen Rollator in den Aufzug und wir gehen spazieren.

Hey Nana - Jadu und Oma Maria

„Für so etwas hat man heute doch Personal“, schreibt mir ein nahestehendes Familienmitglied, als ich dich gerade ins Bett gebracht habe. Zuhause sterben? Früher, ja, da musste man das noch zusammen durchstehen, als Familie. Aber heute gäbe es doch Einrichtungen. Mit geschultem Personal: Menschen, die wüssten, wie man Socken anzieht, die man dafür bezahle. Das müsse doch keine Enkelin auf sich nehmen. Meinen Entschluss, dich zu pflegen, habe ich selbst nicht kommen sehen. Vor deiner Krebsdiagnose habe ich mit derselben Bewunderung, demselben Respekt, demselben Unverständnis auf Geschichten wie unsere reagiert. Aus der Ferne klang es schaurig: Dich in den Tod pflegen. Von Nahem betrachtet, muss ich feststellen: dein Tumor nimmt uns gemeinsame Zeit, und schenkt sie uns doch. Er wächst aggressiv, lange wirst du meine Hilfe nicht brauchen. Für ein paar Wochen kann ich mein Leben pausieren und bei dir einziehen. Wir haben Glück: Der Krebs tobt in deinem Bauch, streut in Leber und Lunge, aber dein Kopf bleibt verschont. So bist du genau die Person, die ich ein Leben lang kennengelernt habe. An deinem Blick, deiner Haltung, kann ich ablesen, was du brauchst: vom Wasserglas über die Lymphdrainage bis zu den Bratkartoffeln zum Mittagessen. Ich kaufe ein, wasche Wäsche, backe Kuchen, drehe deine Haare in Lockenwickler. Unser Rollenwechsel verläuft reibungslos, ohne viele Worte. Als wäre ich deine Zweitbesetzung, die 28 Jahre lang auf ihren Einsatz gewartet hat. 


Mein Lohn dafür ist Zeit mit dir. Wir blättern uns durch alte Fotoalben, schreiben deine Erinnerungen auf, kaufen schallend lachend Umstandskleidung für deinen wachsenden Bauch, unterhalten uns abwechselnd mal über den Sinn des Leben, mal über die Einkaufsliste. In den ersten Monaten gelingt es mir, meine Traurigkeit herunterzuschlucken. Den Abschiedsschmerz auszuknipsen, so wie du es mit dem Fernseher machst, wenn ein trauriger Film läuft. Negativen Gefühlen bist du schon immer aus dem Weg gegangen. Man darf den Kopf nicht hängen lassen, sagst du. Also halte ich ihn mit aller Kraft oben. Bis wir eines nachmittags im Nähzimmer sitzen und ich daran denke, wie wir noch vor einem Jahr die Gardinen für dieses Zimmer ausgesucht haben (hell und fröhlich, mit kleinen Vögelchen). Mit Sorgfalt hast du deine neue Seniorenwohnung ausgestattet, damit du noch viele Jahre gerne aus dem Fenster schauen wirst. Umsonst. Alles, alles unwichtig. Die hässlichen Gardinen lachen mich spöttisch aus. Hätte ich dir mal zu etwas Modernerem geraten. Da habe ich nun den Salat, Rüschenvögel sind eben nicht zeitlos. In ein paar Monaten, Wochen, Tagen, werden sie in einem Container landen. Du sitzt neben mir an der Nähmaschine, nimmst all deine Kraft zusammen um letzte Löcher in meinen Hosen zu flicken. Du wirst keine Zeit mehr haben, mir das Flicken beizubringen. Wir werden keine Zeit mehr haben. Als ich aus Versehen schluchze, drehst du dich erschrocken zu mir um. „Oh nein“, sagst du „nicht weinen“. Du beugst dich über deinen Rollator, streckst deine Arme nach mir aus. Und dann weine ich in dein pinkes Stretch-T-Shirt mit den Strasssteinen. Das, von dem ich vor kurzem noch dachte, dass es dich älter macht, als du bist. Dabei bist du alt, älter, am ältesten. 84 Jahre, älter wirst du nicht mehr. „Wir hatten doch noch so viel vor“, sage ich und hinterlasse einen immer größer werdenden dunklen Fleck auf dem Pink an deiner Schulter. „Ich weiß, mein Kleines,“ sagst du, und es klingt wie „es tut mir leid“. Die Rollen wechseln hin und her. Ich bin es, die dich trösten müsste, weil du das Leben verlierst. Stattdessen singst du „Heile heile Segen“ für mich, weil ich dich verliere.

Deine Ärzte hatten dir noch drei Monate gegeben. Das war im November, jetzt ist es Juli. Die Einrichtungen mit dem geschulten Personal sind nun doch Thema. Zwischen dem Traumschiff und André Rieu wägen wir abends gemeinsam deine Optionen ab, während wir ratlos auf diesen Zug warten, der dich zu deiner letzten Reise abholen soll und für den es doch keine Ankunftszeit gibt und kein Gleis.

Dich plagt das schlechte Gewissen. Du willst nicht, dass ich mein Leben verpasse. Grübelnd sitzen wir gemeinsam auf deinem Pflegebett. Wir schauen uns Broschüren vom nächstgelegenen Hospiz an, das doch zu weit entfernt ist von deinem vertrauten Umfeld. Testen nächteweise das Pflegeheim im Stockwerk unter deiner Wohnung, warten dreißig Minuten lang auf Personal, nachdem wir den Notknopf gedrückt haben. Schauen uns an und wissen: das ist es nicht. So soll es nicht enden. Stattdessen lerne ich, deine Fentanylpflaster zu wechseln, die Atemmaske anzulegen, dir bei Atemnotsanfällen Beruhigungstabletten in die Backentasche zu stecken. In schwächeren Wochen deine Zähne im Bett zu putzen, den Toilettenstuhl zu leeren. In der größten Not die Nummer vom ambulanten Pallativteam zu wählen. Die Morphinspritzen liegen inzwischen in deinem Kühlschrank, direkt neben der Butter, aber zum Verabreichen brauche ich Hilfe. Das Pflegen setzt Ängste und Ekel außer Kraft. Nur gegen meine Spritzenphobie kommt die Liebe zu dir nicht an.

Pflege und Entertainment: Toja und Lilo beim Lesen

Deinem Tod aber will ich mutig in die Augen sehen. In diesen letzten Monaten teilen wir uns dein Ehebett. Ich schlafe auf Opas Seite, die seit zwei Jahren leer ist. Die neue Routine ist schnell vertraut: ich lagere deine geschwollenen Beine auf zwei große Kissen, gebe dir eine Schlaftablette und deine Atemmaske. Vor den nächtlichen Atemaussetzern hast du mir noch vorgelesen. Als das Beatmungsgerät einzog, habe ich auch diese Rolle übernommen. Sobald du schläfst, bereite ich mich auf dein Sterben vor als wäre es eine Schulprüfung, öffne zahllose Tabs: „todesanzeichen erkennen“ – „sterbender person helfen“ – „todesprozess wie lange“. Wann der Zug eintreffen wird ist immer noch unklar, aber das Internet bereitet mich auf seine Ankunft vor. Als er im September ganz plötzlich am Gleis steht, fehlen alle klassischen Anzeichen und trotzdem weiß ich es ganz intuitiv. Wir sind alleine in deinem Wohnzimmer, vor ein paar Tagen hast du von hier aus noch die Vögel beobachtet. Jetzt willst du endlich fliegen. Ich setze mich zu dir und deine Hand findet ein letztes Mal meine. Während dein Herz langsam aufhört zu schlagen, klopft meines lauter als je zuvor. Als will es sagen: Ich kann das jetzt alleine. Es ist unser letzter Rollenwechsel. Der Kreis ist geschlossen. Ich schlage für dich weiter, keine Sorge. Ich kann das jetzt alleine.

Das nahestehende Familienmitglied, das mir von deiner häuslichen Pflege abgeraten hatte, sitzt einige Stunden später neben dir und gesteht betreten, sich nicht an die letzte lange Unterhaltung mit dir zu erinnern. Da weiß ich: wir haben alles richtig gemacht.

Wenn ich sage, dass diese Monate mit Omimi die besten meines Lebens waren, dann ist das keine reine Plattitüde. Ich meine das so. So hat es sich jeden Tag angefühlt, auch wenn ich traurig, wütend, genervt oder hoffnungslos war. Oft hatte ich Angst, mich zu sehr an sie zu gewöhnen. Immer mehr Zeit zu wollen, nicht genug zu kriegen. Doch wenn ich heute von der Endlosschleife aus Kaffee und Kuchen, Buchhandlungsbesuchen, Pizzawaffeln im Garten und Nächten im Nähzimmer träume, dann weiß ich, dass Omimi irgendwann sowieso sagen würde, dass es ihr jetzt reicht. Eine Plauder-Oma war sie nicht. In ihrer Welt kamen die besten Sätze zügig zum Schluss. Die schönsten Momente waren schön, weil sie irgendwann ein Ende hatten. Banale Alltagssituationen in Dokus können mich heute zu Tränen rühren, weil ich weiß, wie endlich sie sind. Weil jedes Kind irgendwann selbst lernt, sich die Socken anzuziehen. Und jede Oma irgendwann keine Socken mehr braucht.

Hey Nana - Jadu und Oma Maria

Diese OMAge stammt von der Content Produzentin und Journalistin Victoria Deborah (Toja), die seit 12 Jahren im Ausland lebt. Erst in Melbourne und dann in Kopenhagen fehlen ihr neben ihrer Omimi in der Ferne vor allem die Spätzle.