Amélie & Oma Annemarie
Ich habe Panik, dass ein falsches Wort meinerseits dazu führen könnte, dass meine Großmutter post mortem gecancelt wird
Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, wollte ich meine Großmutter anrufen und ihr Fragen stellen. Ich sah sie vor meinem geistigen Auge an ihrem runden Esstisch sitzen, vor sich Eier und Räucherlachs, hinter sich ihre geliebte dunkelgrüne Wand. Das Esszimmer war das Zentrum ihres Universums, regelmäßiger Treffpunkt der Familie unter ihrem eisernen Regiment. „Wie war das im Krieg?”, hatte ich sie als Kind einmal gefragt. Sie schwieg damals lange. Furchtbar sei es gewesen, war alles was sie sagte. An diesem Abend steckte sie meine Bettdecke noch fester als sonst unter die Matratze, bevor sie die Tür schloss und ich kurz darauf nur noch die große Wanduhr im Flur ticken hörte. Dieses Schweigen meiner Großmutter, das ich so zum ersten Mal wahrnahm, war das laute Schweigen des Großteils einer ganzen Generation. Mich prägt es vielleicht bis heute.
Ich kann meine Großmutter nicht mehr anrufen und ihr Fragen stellen, denn sie ist bereits verstorben. Aber seit diesem Tag im Februar, an dem ich sie so deutlich vor mir sah, will ich über sie schreiben. Jedoch weiß ich nicht, ob ich dies überhaupt kann oder darf. Aus zwei Gründen: Wir hatten eine schwierige Beziehung und Oma war Deutsche, so wie ich. Will ich über sie und unser Verhältnis sprechen, muss ich auch auf die Erfahrung einer Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg Bezug nehmen. In einem Jahr, in dem die AfD voraussichtlich die Landtagswahlen in mehreren Bundesländern gewinnt, rassistische und antisemitische Angriffe sich in der ganzen Welt häufen und die öffentliche Debatte in Deutschland so heiß läuft wie noch nie zuvor, scheint solch ein Text riskant. Zu schnell kann er missverstanden werden. Ich habe Panik, dass ein falsches Wort meinerseits dazu führen könnte, dass meine Großmutter post mortem gecancelt wird. Oma würde mich wahrscheinlich nur verständnislos mit blauen Augen anschauen und mich dann achselzuckend in ihre Küche mitnehmen, um mir zu zeigen, wie man möglichst elegant Schokopudding über Dosenbirnen in kleine Glasschälchen kippt.
Während die Taten des Nationalsozialismus unverzeihlich sind, so ist die Erinnerung an Familienmitglieder nicht immer nur schwarz oder weiß. Ich will mit Empathie an meine Großmutter denken, auch wenn ich sie oftmals nicht ausstehen konnte. Meine Mutter verspricht mir zu helfen und versucht, meine Wissenslücken mit Fotos und ihren eigenen Erinnerungen zu füllen. Während wir telefonieren und über Oma sprechen, müssen wir beide weinen – kurz darauf streiten wir heftig. Meine Mutter ist ebenfalls ein Buch mit sieben Siegeln und ich fühle mich oft missverstanden, wenn wir über die Familie sprechen. Mama geht es in der Beziehung mit mir wahrscheinlich ähnlich. Einige Stunden später sitze ich am Fenster meiner Pariser Wohnung und suche das Licht des Eiffelturms.
Während die Welt draußen sich immer schneller dreht, verschwimmen Bilder aus meiner Kindheit mit den Erzählungen meiner Mutter und werden zu Fiktion. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft, wenn ich mit Freundinnen und Freunden rede, die zögern, ihre Religionszugehörigkeit offen zu zeigen, oder wenn Sicherheitsexpert*innen nach Ende eines Interviews von Angst sprechen.
Meine Großmutter hieß Annemarie Leister, geboren 1929 in Thüringen. Sie war 16 Jahre alt, als der Krieg endete und die russische Besatzung begann. Dort setzt die Erzählung meiner Mutter ein. Über die Kriegsjahre sprechen wir am Telefon nicht, was mich nicht überrascht. Ich frage gar nicht erst danach und mache mir hastig Notizen, während Mama sich an ihre Mutter erinnert, was nicht oft passiert. Beide Frauen sprachen zu Lebzeiten eher selten miteinander. Oma Annemarie’s Vater war Lehrer und Parteimitglied, erfahre ich so zum ersten Mal. Ob er die Propaganda glaubte, ob meine Großmutter sie glaubte, ich weiß es nicht. Parteimitglieder durften nach Kriegsende nicht arbeiten, erzählt meine Mutter, die Familie hatte also kein Auskommen. Annemarie ist das älteste von vier Kindern und beginnt direkt nach dem Abitur als Sekretärin zu arbeiten. Was sie verdient, tritt sie zuhause ab. Sie kümmert sich um ihre Geschwister und wird für sie zur Bezugsperson, schließlich finanziert sie die Ausbildungen für alle drei. Jeden Abend läuft sie von der Arbeit nach Hause und wartet auf Zeichen ihres Vaters. Sind russische Soldaten in der Nähe, dreht sie wieder um und kommt anderswo unter. Begegnet sie Soldaten auf der Straße, versteckt sie sich am Straßenrand. Ich frage mich, ob ich ihre Kraft gehabt hätte. Ich frage mich, was ihr damals durch den Kopf ging. Während meine Generation sich auf sozialen Medien profiliert, vergrub meine Großmutter ihr Gesicht im Straßengraben. „Oma wollte Lehrerin werden”, so meine Mutter. Stattdessen verhandelte sie mit den Russen, brachte die Familie in den Westen und verlobte sich 1955 mit meinem Großvater. Sie legte ihre Träume ab wie ihren Mädchennamen.
Ein Haus wie das andere, der Garten mit der großen Terrasse und den vielen Spatzen, Omas Paradies. Der Zierbrunnen, in welchen ich als Kind zum großen Ärger meiner Familie mit großer Freude Steine warf, immer makellos. Wir waren selten bei meinen Großeltern zu Besuch. Am häufigsten wahrscheinlich, als ich noch ein Kleinkind war. Ich war Asthmatikerin und dauernd krank, nahm jeden Tag mehrmals Medikamente. Auch meine Großmutter hatte Asthma, erinnert sich meine Mutter. Oma sprach jedoch nie darüber und ging stattdessen nach Atem ringend und würgend ins Nebenzimmer, damit meine Mutter es nicht merkte. Oma wollte niemandem zur Last fallen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, zu ersticken und frage mich bis heute, wie sie ohne Kortison zurechtkam.
Während mein Großvater mir als Kind vorlas und ich Medikamente inhalierte, hantierte Oma in der Küche, um für alle zu kochen. Immer wenn sie buk, durfte ich die Schüssel mit Teig auskratzen. Essen war die einzige Sprache meiner Oma. Nicht nur ihre Sprache der Liebe, Ernährung war für sie auch Kontrolle. Sie entschied, was auf den Tisch kam und wer nicht genug aß, fiel in Ungnade. Ich erinnere mich nicht, wie ich mich als Kind in Omas Gegenwart gefühlt habe, aber sie wird ihre Familie sehr geliebt haben. Nur aus ihrem Panzer ausbrechen, sich verletzlich zeigen, um Hilfe bitten, das konnte sie nicht. Später wurden die Besuche bei den Großeltern seltener. Oma kam noch zu meinen Geburtstagen oder wir sahen sie an Nikolaus. Je älter ich wurde, desto mehr spürte ich die Anspannung meiner Mutter bei diesen Treffen. Als ob sie beweisen müsste, dass sie alles könne: Perfekte Mutter, perfekt Hausfrau, perfekte Karriere. Ich hatte mir als Kind oft gewünscht, dass man als Familie einfach gemeinsam am Tisch sitzt und lacht. Schließlich habe ich beide Frauen geliebt.
Ich denke manchmal, ich muss meine Großmutter sehr enttäuscht haben. Anstatt in der Rolle als liebevolle Tochter, Schwester und zukünftige Ehefrau aufzugehen, wollte ich etwas anderes. Ich wollte lernen und studieren, vor allem wollte ich mich nicht deutsch fühlen. Das Deutschsein war für mich schmerzhaft, bis heute schreibe ich ungern in meiner Muttersprache. Ich arbeitete als Model und Journalistin, während Oma wahrscheinlich vergebens auf meine Verlobung wartete. Dass sie meine Hochzeit – so ich denn eines Tages heiraten werde – nicht mehr erleben kann, macht mich seltsam traurig. Das Mädchen in mir will es ihrer Großmutter wohl noch immer Recht machen, auch wenn es beinahe an dem Versuch zerbrach.
Eine Frau war für Annemarie weniger wert als ein Mann. So brachte sie mir bei, meinem Bruder alles hinterherzutragen und nicht zurückzuschlagen, sie schenkte mir Geschirr für die Aussteuer und brachte mir liebevoll das Backen bei. Andererseits bezeichnete sie mich auf Familienfeiern als schwarzes Schaf und schaute missbilligend auf meine kurzen Haare und langen Beine. Sie schwieg zu Politik, sie schwieg zum Krieg, sie schwieg zu meinen Träumen, also begrub auch ich sie lange Zeit.
Bis heute weiß ich nicht, was für ein Mensch meine Oma war.
Wie ich, wollte auch meine Mutter dem Leben als Hausfrau entkommen. Mama floh vor den Geschichten aus der russischen Besatzungszeit nach Frankreich und Italien, um sich selbst und später ihren Kindern im Süden ein neues Zuhause zu geben. Sie ging in den 70ern und 80ern als Feministin auf die Straße, gab Frauenreiseführer heraus und drehte Filme. Sie schaffte, was für viele Frauen ihrer Generation unmöglich war: Sie hatte Kinder und eine Karriere, auf die sie stolz war. Um die Kraft dafür zu haben, sprach sie so gut wie nie mit ihrer Mutter. Und wenn Mama doch ab und an den Stuhl ans Telefon im Wohnzimmer rückte, kurz Luft holte und die Trierer Vorwahl tippte, wusste ich immer, was kam. Entweder sie schwieg nach dem Telefonat, oder sie weinte. Meine Mutter hatte nach den Gesprächen mit Oma immer ein schlechtes Gewissen.
Ich denke oft, dass ich ganz anders bin als meine Großmutter und Mutter, liebevoller. Zugleich weiß ich, wie viel von beiden ich in mir trage. Das Schweigen beider Frauen wurde zu meinem Bedürfnis, über alles zu reden und zu schreiben. Der Kampf meiner Mutter wurde mit zum Beweggrund vieler meiner beruflichen Entscheidungen. Die Scham, mit dem Nationalsozialismus direkt oder indirekt in Verbindung zu stehen, erlaubt mir, anderen zuzuhören. Die Träume, die meine Großmutter nicht leben konnte, sind mein größter Antrieb.
Ich habe keine Lösung für die aktuelle Angespanntheit im deutschen öffentlichen Raum. Es fühlt sich für mich auch anmaßend an, diese überhaupt zu suchen. Was ich von der Beziehung mit meiner Großmutter gelernt habe, ist, dass man manchmal Schweigen akzeptieren muss – ob man will oder nicht. Dass man aber auch einem schweigenden Menschen zuhören kann. Dass man lieber versöhnlich sein sollte, als vorschnell zu urteilen. Dass es keine einfachen Antworten gibt, dass eine jede Person eine eigene Wahrheit lebt und dass es sich lohnt, diese zu suchen. Vielleicht ist es das, was uns gerade fehlt. Ein Raum, in dem wir einander wirklich zuhören.
Meiner Mutter habe ich den Text geschickt und sie fand ihn gut. „Oma würde es nicht ganz verstehen, aber sich insgeheim freuen. Sagen würde sie natürlich nix”, kam als Antwort aufs Handy.